15 Feb. Versatzstück 20130215
Die Marienthal-Studie
___
Theorien, die dem Denken Richtung geben
Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ ist ein Klassiker der europäischen Sozialforschung. Der Name „Marienthal“ bezeichnet eine Textilfabrik und Arbeitersiedlung, die auf dem Boden der Marktgemeinden Gramatneusiedl und Reisenberg wenige Kilometer östlich von Wien lag.
Im Jahr des Beginns der Weltwirtschaftskrise 1929 begann die Schließung. 1930 schloss die Fabrik vollständig. Damit endete eine über 100-jährige Geschichte. Ein großer Teil der Gebäude wurde noch im selben Jahr abgerissen. Die Menschen verloren ihre Arbeit und auch viele Orte der Erinnerung an ihre Arbeit und die Arbeit der Generationen vor ihnen.
Ein Jahr später, im Herbst 1931, waren von den 478 Familien in Marienthal 367 Familien weiterhin ohne Arbeit. Die Forscher Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel und ihre Mitarbeiter wollten wissen, was passiert, wenn „ein Ort“ arbeitslos wird. Sie wählten als Instrument die teilnehmende Beobachtung.
„Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, dass kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern dass sich jeder durch irgendeine auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben natürlich einzufügen hatte.“ – Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel
Die zentrale Frage der Untersuchung war, welche Konsequenz Massenarbeitslosigkeit auslöst. Führt sie eher zur Radikalisierung oder zur Apathie bei den betroffenen Menschen? Die Ergebnisse:
- Apathische Haltung (25%): „Wohnung und Kinder sind unsauber und ungepflegt, Stimmung ist indolent, keine Pläne, energieloses, tatenloses Zusehen, keine Hoffnung auf Besserung, Wirtschaftsführung ist unrationell, viele Bettler“
- Verzweifelte Haltung (11%): „Aufrechterhaltung des Haushaltes, Pflege der Kinder, Verzweifelung, Depressionen, Hoffnungslosigkeit, keine Pläne, Gefühl der Vergeblichkeit aller Bemühungen, keine Arbeitssuche, keine Versuche zur Verbesserung, wiederkehrende Vergleiche mit der besseren Vergangenheit“
- Resignierte Haltung (48%): „Aufrechterhaltung des Haushaltes, Pflege der Kinder, Gefühl des relativen Wohlbefindens, keine Pläne, keine Beziehung zur Zukunft, keine Hoffnungen, maximale Einschränkung aller Bedürfnisse, über die Haushaltsführung hinausgehen“
- Ungebrochene Haltung (16%): „Aufrechterhaltung des Haushaltes, Pflege der Kinder, subjektives Wohlbefinden, Aktivität, Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, aufrechterhaltene Lebenslust, immer wieder Versuche zur Arbeitsbeschaffung“
Während die Frauen noch durch die Hausarbeit in Prozesse eingebunden waren, fielen die Männer durch den Verlust an Aufgaben in eine verlangsamtes Lebensmuster. Das Vereinsleben erlebte einen Niedergang, der Park und die Bibliothek wurden immer weniger genutzt und die Gesundheitsverhältnisse verschlechterten sich. Sie waren sogar noch schlimmer, als die Daten belegen, weil die stark betroffenen Menschen – die Familien, die sich aufgegeben hatten – es kaum mehr nutzten.
Die Studie zeigte erstmalig mit Hilfe einer wissenschaftlichen Betrachtung die Bedeutung der sozialen Strukturen und Prozesse und damit der Beziehungen und Sinnzuschreibungen, die Menschen Halt geben. Verschwinden Sie ohne Aussicht auf Ersatz, setzt eine lähmende Orientierungslosigkeit ein. Im Kreislauf der negativen Rückkopplungen schwinden Handlungskompetenz und Selbstwertgefühl.
Die Studie zeigt aber auch – und der Teil wird deutlich seltener erwähnt – eine Korrelation zwischen Einkommen und Haltung. Die ungebrochenen Familien hatten im Durchschnitt 34 Schilling und die apathischen Familien hingegen nur 19 Schilling für ihre Lebensführung im Monat zur Verfügung.
Der Schlusssatz der Studie: „Wir haben als Wissenschaftler den Boden von Marienthal betreten. Wir haben ihn verlassen mit dem einen Wunsch, dass die tragische Chance solchen Experiments bald von unserer Zeit genommen werde.“